
„Die Proteste könnten diesmal die Demokratie in Serbien erneuern“
„Die Proteste könnten diesmal die Demokratie in Serbien erneuern“
Frankfurter Rundschau
11.5.2025
Vedran Džihić erklärt im folgenden Interview, wie sich Studierende gegen die Gewalt und die serbische Autokratie wehren und was Europa aus ihrem Kampf lernen kann.
Seit Wochen demonstrieren Studentinnen und Studenten gegen die Regierung in Serbien. Am 25. April haben sich einige zu Fuß auf den Weg nach Brüssel gemacht. 18 Tage soll der politische Ultramarathon über 2000 Kilometer dauern. Ziel ist es, die Abgeordneten des EU-Parlaments auf ihren monatelangen Kampf gegen Korruption und für Rechtsstaatlichkeit in Serbien aufmerksam zu machen. Dasselbe Ziel hatten bereits rund 80 Student:innen, die vor wenigen Wochen mit dem Fahrrad in Straßburg ankamen, wo sie Vertreter:innen von EU und Europarat trafen.
Herr Džihić, in Serbien hat es in den vergangenen Jahren mehrfach Proteste gegen die Regierung gegeben. Aber Präsident Alexandar Vučić und seine rechtsnationalistische Serbische Fortschrittspartei (SNS) sind noch immer am Ruder. Was ist diesmal anders?
Aleksandar Vučić herrscht seit 13 Jahren in Serbien. Das Land hat sich bei allen globalen Indizes in der Qualität der Demokratie weltweit gemeinsam mit ein paar anderen Staaten am stärksten autokratisiert. In all den Jahren der autoritären Vučić-Herrschaft gab es immer wieder Proteste. Auch in den 90er Jahren war Serbien Schauplatz großer Proteste, damals gegen das Regime von Slobodan Milošević, was zu seinem Sturz führte. In jüngster Zeit gab es Proteste nach dem Amoklauf an einer Belgrader Volksschule im Mai 2023 und nach den Parlamentswahlen im Dezember 2023, die nicht fair und frei waren. Der Ausgangspunkt der aktuellen Proteste ist der Einsturz des Vordaches eines Bahnhofsgebäudes in Novi Sad, der größten Stadt in Nordserbien. 16 Menschen sind ums Leben gekommen.
Die Studentinnen und Studenten geben der Regierung die Schuld …
Die Menschen in Serbien sagen: Diese 16 Toten sind die Opfer des Regimes, der Korruption, der Misswirtschaft, der Mangelwirtschaft, der Kriminalität. Aber diese Proteste der Studenten sind weit mehr als nur Reaktion auf dieses tragische Ereignis. Sie sind die Geburt von etwas Neuem.
Was ist neu?
Aktuelle Proteste werden von Studenten angeführt, jungen Menschen, von denen man glaubte, sie seien apathisch, nur interessiert am eigenen Fortkommen, am Auswandern, dass sie apolitisch sind oder teilweise die Narrative der 90er Jahre übernommen haben. Nun nehmen sie ihr Schicksal in die eigene Hand. Sie sind voller Energie, Enthusiasmus und Zuversicht, arbeiten mit Hoffnung und Liebe. Dabei sind sie sehr kreativ, blockieren Universitäten, machen Kunstaktionen, organisieren eine lange Radfahrt von Belgrad nach Straßburg zum Europäischen Parlament. Mit dem Rad und zu Fuß besuchen sie Menschen in kleinen serbischen Städten, machen Bürgerversammlungen an den Unis, wo basisdemokratisch über die Proteste entschieden wird. In einer Gesellschaft, die sehr autoritär, zentralistisch, hierarchisch organisiert ist, ist das neu. Ihre Forderungen richten sie an den Staat und seine Institutionen, nicht an Vučić, denn der hat verfassungsmäßig keine Kompetenz; er ist ein repräsentativer Präsident wie Aleksander van der Bellen in Österreich. Für die serbische Demokratie bedeutet das eine Erfrischung, eine Erneuerung – und auch für die europäischen Demokratien. Viele Staaten, auch in Westeuropa, könnten einiges von diesen jungen Menschen lernen.
Sie denken an Ungarn?
Die Strukturen sind dort ähnlich. Der Staat wird seit 2010 autoritär regiert von Viktor Orbán. Seine Partei Fidesz beherrscht alle Teile der Gesellschaft. Aber es regt sich immer wieder Widerstand und Proteste – mit einem Unterschied: In Ungarn sind es die politischen Parteien der Opposition, und vor allem die neue Partei von Péter Magyar, die Orbán und Fidesz herausfordern.
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Die Opposition spielt in Serbien keine Rolle?
Die ist schwach, fragmentiert, sehr stark gespalten und hat nicht die Zugkraft, um zu einer großen Veränderung im Land zu kommen. Die Proteste kommen aus einer genuinen Basisbewegung.
Es sieht aus, als gäbe es auch eine starke Bürgerbewegung auf Seiten der Vucic-Regierung. Es gibt sogar Anti-Protest-Camps.
Vučić dominiert nicht nur den öffentlichen Diskurs durch die regimetreuen Medien. Es gibt auch eine regimegesteuerte Mobilisierung einer sogenannten alternativen Zivilgesellschaft. Da werden Proteste simuliert, von staatlicher Hand organisiert. Ein Beispiel: Nachdem es am 15. März in Belgrad die größten Proteste in der Geschichte gegeben hatte, mit geschätzt mehr als 300 000 Menschen auf den Straßen und Vučić sah, dass er auch mit Gewalt nicht ankommt gegen die Protestierenden, hat er Busse aus ganz Serbien nach Belgrad fahren lassen mit Menschen, die in Abhängigkeit vom Regime stehen. Jede kleine Gemeinde in Serbien bekam den Befehl, eine bestimmte Anzahl von Menschen aus den staatlichen Behörden und kommunalen Betrieben für diese Demonstration in Belgrad abzustellen. Es wurde mit Verlust des Arbeitsplatzes gedroht. Das ist verordneter Volkswille.
Woher wissen Sie das so sicher?
Es gibt zum Glück auch eine intakte Zivilgesellschaft. Kompetitiv-autoritäre Regime wie in Serbien, Ungarn oder der Türkei arbeiten mit Angst, Repression und Unterdrückung. So kann es schalten und walten, wie es will. Doch viele in Serbien haben mittlerweile die Angst verloren – auch wegen der Studentenproteste. Die Menschen beobachten die laufenden Prozesse nun ohne Angst und berichten davon. Da ist etwas in Gang gekommen …
… obwohl die Regierung schon Gewalt eingesetzt hat?
Genau. Der Verlust der Angst der Menschen geht ja nicht automatisch mit dem Ende der Repression des Regimes einher. Vučić hat jetzt zwei Möglichkeiten, dem Druck nachgeben, was er nicht tun wird, oder er verschärft die Repressionen. In diesem sogenannten weißrussischen Modell übt das Regime mehr Druck auf die Zivilgesellschaft aus, lässt Menschen von der Polizei verhören, organisiert proletarische Schlägertrupps, versucht, sich mit massiver Gewalt an der Macht zu halten. Lukaschenko errichtete so nach den gefälschten Wahlen die Diktatur in Belarus. Soweit sind wir in Serbien noch nicht.
Was ist mit der Schallkanone, die am 15. März gegen die Protestierenden eingesetzt worden sein soll?
Die Prüfung läuft noch. Aber alles deutet darauf hin, dass das Regime eine Form von Schallwaffe eingesetzt hat. Und auch, dass Schläger bereitstanden.
Wer sind diese Schläger?
Rund um Vučić’ Serbische Fortschrittspartei gibt es eine Gruppe von Menschen, die sich aus kriminellen Kreisen und aus Fußballfans rekrutieren, die vom Regime kontrolliert werden. Oft sind es Kleinkriminelle und Straftäter, die bezahlt werden, um die schmutzigen Jobs des Regimes zu erledigen. Mitte März waren in Belgrad Menschen mit schwarzen Gesichtsmasken zu sehen. Viele konnten als Straftäter identifiziert werden, die immer wieder für das Regime im Einsatz sind.
Und ihre Aufgabe diesmal?
Wahrscheinlich sollten diese paramilitärischen Gruppen für Chaos sorgen, Gewalt gegen Demonstrierende ausüben und Gegengewalt provozieren. Dann hätte auch die Polizei mit Gewalt gegen die Demonstranten vorgehen können. Tatsächlich hatten sich ein paar Wochen davor schon Schläger-Trupps in Novi Sad in eine friedliche Demonstration eingeschleust und das Rathaus demoliert. Vučić selbst hat diese Zerstörung inszeniert und initiiert und warf den Demonstranten dann vor, sie wollten seine Regierung stürzen.
Im Vorfeld des 15. März hat Vučić vor Gewalt gewarnt, auf die seine Sicherheitskräfte entsprechend reagieren werden. Hat er da vorgebaut?
Hat er. Er warnte auch vor einer angeblich von außen initiierten „bunten Revolution“ durch den liberal-demokratischen Westen, durch einen angeblichen westlichen Deep State. Viele Quellen beweisen, er wollte mit Schläger-Trupps und Schallkanone Chaos erzeugen, um den Einsatz der serbischen Polizei zu rechtfertigen und den Ausnahmezustand auszurufen. Aber die Studierenden haben sehr klug reagiert. Nach dem Einsatz der Schallkanone haben sich die Protestierenden sofort zurückgezogen und so die Strategie des Regimes durchkreuzt.
Lassen Sie uns nochmal auf das Thema Repressionen zurückkommen. In Serbien wird man nicht per se ins Gefängnis gesteckt, wenn man eine andere Meinung hat als die Regierung, die Sie ja konsequent Regime nennen …
Das Regime in Serbien ist kein klassisches autokratisches, sondern ein kompetitiv-autoritäres. Bestimmte Teile der Gesellschaft werden offen gehalten, die Zivilgesellschaft wird nicht im Keim erstickt. Es gibt auch freie Medien, NGOs, Schein- und halb-demokratische Wahlen, politische Verfahren im Parlament und Rederecht. Das Regime versucht, Legitimität zu erzeugen. Aleksandar Vučić schaut darauf, dass das internationale Image des Staates nicht vollends ruiniert wird. Denn für Serbien ist die Beziehung zum Westen wesentlich. Mehr als 60 Prozent des Handels wird mit der Europäischen Union abgewickelt. Aber wenn sich das Regime zu sehr angegriffen fühlt, wird die Repression verstärkt. Unabhängigen Fernsehsendern wird die terrestrische Lizenz entzogen, zu unabhängigen Zeitungen kommt die Finanzkontrolle, zu NGOs die Polizei, Menschen werden bei der Ein- und Ausreise schikaniert. Wer sich kritisch äußert, wird nicht zuletzt in Einzelfällen auch polizeilich und angeklagt – unter fadenscheinigen Gründen. Wie stark die Repressionen in Serbien ausfallen, hängt natürlich auch davon ab, wie sich die Europäische Union dazu positioniert.
Vučić’ Ziel ist der Machterhalt um jeden Preis?
Ja. Er hat in den letzten 13 Jahren die ganze Macht an sich gezogen. Parlament, Gerichtsbarkeit, Regierung – alles Marionetten. Er ist ein klassischer autoritärer Despot mit einer sehr pathologisch ausgeprägten Machtbesessenheit, er setzt das serbische Volk mit sich selbst gleich. Das hat eine messianische Dimension. Abseits von Macht kann Vučić auch nicht überleben. Denn wie bei anderen Regimen auch, könnte sein Sturz oder der Verlust von Ämtern auch Haft bedeuten, sollte es zu einem Prozess etwa wegen Korruption oder anderer Straftaten kommen.
In Serbien sind demnach Behörden, Medien, Wirtschaft und kriminelle Milieus stark mit der Partei Vučić’ verbunden?
Die serbische Fortschrittspartei, die gemessen an der Einwohnerzahl eine der weltweit größten Parteien ist, ist eine Umverteilungsmaschine. Es gibt kooptierte Menschen aus dem Business-, den Wissenschafts-, den intellektuellen Medienkreisen. Daneben taktiert Vučić geopolitisch zwischen globalen Playern wie Russland, China, dem Westen und den USA, der Türkei, Aserbaidschan und arabischen Staaten. Das macht er sehr geschickt. Daneben gab es, wie ich bereits sagte, in der serbischen modernen Geschichte seit 1990, der Zeit Milošević‘, immer informelle Gruppen neben den regulären Armee- und Polizeikräften, die entweder an der kurzen oder an der langen Leine des Regimes standen. Das fing an bei den Freischärlern in den Kriegen der 90er Jahre auf dem Gebiet Ex-Jugoslawiens. Ein bekannter Name ist Arkan (Anm. d. Red.: der Kampfname von Željko Ražnatović), der aus dem kriminellen Milieu kam und dann eine paramilitärische Truppe auf die Beine stellte, die die schmutzige Arbeit für die damalige Milošević-Armee erledigte. In Sicherheits- und Geheimdiensten gab es auch danach immer Verbindungen ins kriminelle Milieu – eine informelle Ebene unter der formalen Ebene der Gesellschaft. Auch Vučić hat immer darauf gesetzt.
Und diese informellen Strukturen, sagten Sie, reichen auch in die Fußballszene hinein …
In Belgrad gibt es zwei große Fußballvereine: Crvena zvezda (Roter Stern) und Partizan Belgrad, unter deren Hooligans und Fan-Szene bereits seit den späten 80er Jahren, in den frühen 90er Jahren Männer für die informellen Strukturen rekrutiert wurden. Arkan führte anfangs die ultranationalistischen Fußballfans von „Roter Stern“. Aleksandar Vučić war selbst in seiner Jugend ein Hooligan. Bis heute gibt es eine sehr starke Bindung zwischen diesen nationalistischen Kreisen und der Serbischen Fortschrittspartei. In Serbien gibt es zwar keine Rechtsstaatlichkeit im demokratischen Sinn, die diese Zusammenhänge feststellen könnte, aber es gibt Unmengen an Beweisen und Dokumenten – so wie man die Vermummten vom 15. März kriminellen Milieus zuordnen konnte.
Auch Vučić fällt immer wieder mit rechtsnationalistischen Äußerungen auf.
Er hat eine klare nationalistische Vergangenheit, machte Karriere innerhalb des repressiven Regimes von Slobodan Milošević, war lange in der ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei mit Vojislav Šešelj an der Spitze, einem Kriegsverbrecher, der sich zum großserbischen Nationalismus bekennt. Später, 2008, gründete man die Serbische Fortschrittsparte. Vučić übernahm die Partei 2012 und hängte sich den Pragmatismusmantel um. In seiner Rhetorik war Vučić ganz klar schon immer nationalistisch und rechtsideologisch. Er stilisiert sich als Übervater aller Serben, als Schützer des wahren Serbentums, zu deren Feinden er etwa die Kosovo-Albaner, Kroaten oder die bosnischen Muslime zählt. Das kennen wir auch aus anderen rechtsnationalistischen Kreisen in Europa: Das Volk teilt sich in ein gutes und schlechtes. Gut ist, wer mir nahe steht, schlecht, wer mich kritisiert. Vučić verbindet eine tiefe Freundschaft mit Viktor Orbán in Ungarn, er hat große Sympathien für die FPÖ, für Robert Fico in der Slowakei, für Trump und Putin.
Welche Verbindung hat Vučić zu Milorad Dodik, dem Präsidenten der Republika Srpskas, dem serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas?
Serbien und die Republika Srpska waren – wie andere Staaten – Teil Jugoslawiens. Die Serben in der Republika Srpska, aber auch die Serben in den anderen Staaten Ex-Jugoslawiens, in Kosovo, Kroatien oder Bosnien, fühlen sich stark miteinander verbunden und identifizieren sich großteils mit dem Mutterstaat Serbien. Hinzu kommt die politische Verbindung zwischen den Parteien und politischen Persönlichkeiten in Serbien und in Srpska. Zwischen Vučić und Dodik gibt es eine pragmatische Geschäftsbeziehung. Bei den letzten Parlamentswahlen in Serbien im Dezember 2023, die auch vom europäischem Parlament und vielen Institutionen als nicht fair und nicht frei eingestuft wurden, hat Dodik dafür gesorgt, dass Menschen aus Republika Srpska, die eine Doppelstaatsbürgerschaft haben, mit Bussen zu den Wahlurnen in Serbien gebracht wurden, um dort die Stimme für Vučić’ Partei abzugeben.
Der bosnische Serbenführer Dodik, gegen den ja ein Haftbefehl vorliegt und der derzeit auf der Flucht ist, sprach Mitte April in Belgrad in einem dieser Anti-Protest-Camps der Regierung …
Sie halten jetzt zueinander und versuchen, eine gemeinsame Antwort zu formulieren. Sie sprechen von einem Angriff auf das serbische Volk, von einer „bunten Revolution“, die von einem Deep State, vom Westen initiiert werde. Denn die neue Dynamik führt auch in der Republika Srpska dazu, dass immer mehr Menschen dem Kaiser zurufen, dass er nackt ist. Immer mehr Menschen verlieren ihre Angst.
Lassen Sie uns nochmal auf die Rolle der EU zurückkommen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen findet lobende Worte für Vučić.
Europa spielt für die Serbinnen und Serben eine sehr große Rolle. Wenn sie emigrieren, gehen sie nicht nach Russland oder China, sondern nach Europa. Die EU hat eine mögliche Mitgliedschaft versprochen, wenn es Reformen gibt. Europa ist neben China der wichtigste Wirtschaftspartner in der Region. 50 000 bis 60 000 Arbeitsplätze sind in Serbien allein durch die deutsche Industrie entstanden. Europas Position zum kompetitiv-autokratischen Regime ist widersprüchlich. Man hat – auch unter Angela Merkel – auf pragmatische Deals mit dem gewählten Machthaber Vučić gesetzt, vielleicht, um die Stabilität in Kosovo und in Bosnien zu erkaufen, vielleicht, um wirtschaftliche Deals zu machen. In der Literatur wird das später als Stabilitokratie bezeichnet. Trotz zunehmender Autokratisierung der Gesellschaft hat man immer ein Auge zugedrückt. Die EU hat keinen richtigen Umgang mit dem verwandlungsfähigen Autokraten Vučić gefunden, auch nicht mit Orbán, Fico oder Erdoğan in der Türkei. Im letzten Sommer hatten wir die große Debatte über den Lithium-Abbau in Serbien.
… im westserbischen Jadar-Tal will das Bergbauunternehmen Rio Tinto den Rohstoff abbauen. Es gab immer wieder Proteste dagegen …
Europa war hier scheinbar bereit, die Demokratie in Serbien für den Green Deal, für europäische Interessen, zu opfern. Von der Leyen setzte den alten Kurs fort. Sie sagte bei ihrem letzten Besuch in Belgrad Ende Oktober 2024: Es gebe große Fortschritte, Reformen würden umgesetzt, Aleksandar Vučić sei ein Freund. Die Proteste sind jetzt der Prüffall, wie sich Europa positionieren wird. Aber ich habe den Eindruck, langsam entwickelt sich ein Bewusstsein, auch in Berlin, in Frankreich, in Österreich, in skandinavischen Staaten, bei zahlreichen EU-Abgeordneten. Man merkt das ein bisschen an den Tönen, die aus der Europäischen Kommission zu vernehmen sind. Die Erweiterungskommissarin, die gerade in Belgrad zu Besuch war, spricht Dinge jetzt anders an, signalisiert, dass man die studentischen Proteste ernst nehmen muss, dass es keine Gewalt geben darf. Es gibt zunehmend die Frage, was machen wir, wenn Vučić nicht mehr da ist? Vieles hängt davon ab, ob sich Europa mutiger, klarer, entschlossener auf die Seite der pro-demokratischen Kräfte stellt.
Trotz allem radeln die Studentinnen und Studenten nach Straßburg und Brüssel?
Die Protestierenden sind größtenteils proeuropäisch eingestellt, aber sie verurteilen die EU für ihre Kompromisse und Deals mit dem Regime. Sie wollen dort eine entschlossene Haltung erreichen. Dann würde die Glaubwürdigkeit der EU in Serbien auch wieder steigen und mittel- bis langfristig die Integration Serbiens in Europa stärken. Und die Zustimmung zur EU könnte nach dem Sturz Vučić’ auch deshalb steigen, weil der Nationalist in Bezug auf Europa zwar pragmatisch scheint, es in seiner nationalistischen Erzählung aber diskreditiert. Er beschimpft Deutschland und den Westen. Serbien könnte nach Vučić sehr schnell auf den Weg Richtung EU-Voll-Mitgliedschaft zurückkehren. Und pro-europäische und pro-demokratische Kräfte in Europa könnten durch die Protestaktionen in Serbien animiert werden, stärkere Allianzen zu schmieden. Und auch die EU selbst steht sichtlich vor einer der größten Zäsuren seit Beginn ihrer Existenz. Sie muss sich entscheiden.