Migrationspolitik der EU – Eine Chance zum Scheitern

Migrationspolitik der EU – Eine Chance zum Scheitern

Interview mit Clemens Binder in der Wochenzeitung NEWS:

Der EU-Türkei-Deal ist gescheitert. Er war aber auch niemals rechtlich bindend. Was die Reaktionen der Politik darauf über die Werte der EU aussagen und wie kooperativer Grenzschutz aussehen könnte, erklärt Clemens Binder, Forscher am Österreichischen Institut für Internationale Politik mit den Schwerpunkten Grenzsicherheit und Technologiepolitik.

News.at: Wie unterscheidet sich die aktuelle Situation von der Migrationsbewegung 2015?
Clemens Binder: Grundsätzlich ist die derzeitige Bewegung im Moment noch viel kleiner – man geht von etwa 14.000 Geflüchteten aus. Natürlich kann sich das schnell in eine andere Richtung entwickeln, betrachtet man etwa die Neuankünfte auf Lesbos. Man muss allerdings festhalten, dass es auch seit 2015 immer wieder Migrationsbewegungen gegeben hat – so migrierten im Jahr 2019 laut der Grenzschutzagentur Frontex 139.000 Menschen in die Union, was zwar den niedrigsten Wert seit 2013 darstellt, allerdings stieg die Anzahl der Grenzübertritte im östlichen Mittelmeerraum und in der Ägäis. Die heutige Situation hat sich demnach länger entwickelt. Generell halte ich es allerdings für nicht zielführend, dass die Politik ständig von 2015 spricht, da Migrationsbewegungen konstant sind und sich besonders in ihrer Größe unterscheiden, nicht aber in ihrer generellen Existenz.

Entscheidend ist auch, dass die politische Situation in Griechenland eine andere ist. Während 2015 Alexis Tsipras Regierungschef war, ist seit Juli 2019 der konservative Hardliner Kyriakos Mitsotakis im Amt. Mitsotakis fährt seit Tag 1 eine weitaus härtere Linie in der Asylpolitik als Tsipras, die Reaktion Griechenlands war absehbar. Der Unterschied liegt auch in der Unterstützung der EU für Griechenland, die weitaus größer ist als noch 2015.

Was hat die EU in den vergangenen fünf Jahren geändert bzw. was hat sie aus 2015 gelernt?
Die EU hat viel geändert – ob sie viel gelernt hat, bin ich mir nicht sicher. Frontex wurde 2016 sowie 2019 mit neuen Mandaten ausgestattet, die ihre Kompetenzen massiv erweitern, und hat große Operationen gestartet. Verschiedene neue Systeme, beispielsweise Informationssysteme oder das Überwachungssystem EUROSUR wurden erweitert, implementiert oder sollen implementiert werden. Die Problematik sehe ich darin, dass die EU – besonders der Rat – ständig mit dem Krisenszenario aus 2015 argumentierte und damit versuchen wollte, Migration abzuwehren, anstatt die Kapazitäten zu verbessern, mit Migration umzugehen. In vielen zentralen Fragen – beispielsweise der Seenotrettung – konnte kein Konsens und dadurch keine Lösung erzielt werden. Was in den implementierten Systemen sichtbar wird, ist, dass die EU mehr Kontrolle über die Grenzübertritte erlangen wollte – inwieweit diese Systeme funktionieren und eventuell sogar negative Auswirkungen mit sich bringen, muss sich erst noch zeigen.

Die Politik hat schnell einen Schuldigen gefunden. Kanzler Kurz und Vizekanzler Kogler üben massive Kritik am türkischen Präsidenten Erdoğan. Man spricht von einer "bösartigen Provokation" seinerseits. Ist diese Argumentation nicht zu einfach?
Diese Argumentation ist dahingehend problematisch und vereinfachend, dass sie die Fehler übersieht, die innerhalb der EU gemacht wurden. Klarerweise ist Erdoğans Handeln, auf Kosten Geflüchteter Machtpolitik zu betreiben, zu verurteilen. Es ist aber auch rechtens – der Deal war niemals rechtlich bindend. Man sollte aber mehr über die Reaktion der EU sprechen – mit Polizei und Militär gegen Geflüchtete vorzugehen, ist definitiv der falsche Weg. Man müsste sich fragen, wie die EU sich in solchen Situationen nicht angreifbar macht – das würde damit anfangen, die derzeit im Grenzland gestrandeten Geflüchteten aufzunehmen. Dann würden die Provokationen im Sand verlaufen. Man muss sich auch die Frage stellen, ob es die richtige Entscheidung war, sich auf den EU-Türkei-Deal zu verlassen, anstatt nachhaltige Migrationspolitik zu betreiben.

Im sogenannten "EU-Türkei-Deal" versprach die Union der Türkei Milliarden Euro an Unterstützung; aktuell bietet die EU auch Griechenland finanzielle Unterstützung an. Wie nachhaltig sind solche Finanzhilfen?
Dabei muss man unterscheiden, dass die Mittel in der Türkei für andere Zwecke eingesetzt werden hätten sollen, als das jetzt in Griechenland der Fall ist. Griechenland hätte jahrelang Geld für Infrastrukturen auf Lesbos benötigt, Geld für die Abwehr von Geflüchteten jetzt ist der falsche Weg. In der Türkei sollten humanitäre Infrastrukturen geschaffen werden. Studien haben aber gezeigt, dass das Geld, das an die Türkei geflossen ist, oft nicht diesem Zweck entsprechend investiert wurde, sondern beispielsweise für militärisches Equipment ausgegeben wurde. Grundsätzlich glaube ich nicht, dass eine Migrationspolitik durch Finanzhilfen nachhaltig ist. Die EU versucht das ja auch in afrikanischen Staaten, der Erfolg ist allerdings mäßig. Außerdem unterliegen solche Abkommen immer einer gewissen Instabilität, beispielsweise durch macht- oder innenpolitisches Kalkül.

Bleiben wir in Griechenland. Das Land hat die Unterstützung der EU-Grenzorganisation Frontex angefordert. Wie darf man sich die Arbeit von Frontex konkret vor Ort vorstellen?
Frontex hat eine sogenannte "Rapid Border Intervention" Mission an der griechisch-türkischen Grenze gestartet. Beamte haben hier mehrere Aufgaben – sie sollen Migrationsbewegungen überwachen, Schutzsuchende aufnehmen und nicht-schutzberechtigte Menschen rückführen. Dabei ergibt sich allerdings das Problem, dass Griechenland das Recht auf Asyl ausgesetzt hat, womit die Registrierung unmöglich wird. Dies wird, fürchte ich, in einer Reihe von Pushbacks resultieren. 2015 wurde für solche Situationen das Hotspot-System geschaffen, im Rahmen dessen Frontex mit der EU-Asylbehörde EASO kooperiert, um an der Grenze schnelle Registrierungen vorzunehmen. Auch das System wurde durch Griechenlands Ankündigung, das Recht auf Asyl auszusetzen, verunmöglicht.

Mit welchen Rechten sind Frontex-Beamte ausgestattet?
Derzeit sind Frontex-Beamte meistens nationale Grenzbeamte, die Frontex unterstehen. Sie sollen die Grenzwachbeamten vor Ort unterstützen und haben dabei dieselben Kompetenzen – kontrollieren und über Einreise entscheiden. Zusätzlich können sie Geflüchtete registrieren und Rückführungen durchführen.

Frontex wurde immer wieder stark kritisiert. So sollen Grundrechte missachtet worden sein, Menschenrechtsverletzungen durch nationale Grenzwachbeamte toleriert worden sein. Was hat es damit auf sich? Wer kontrolliert Frontex?
Rein rechtlich gesehen unterliegt Frontex einer Rechenschaftspflicht gegenüber dem EU-Parlament und dem Rat. Realpolitisch gesehen ist dies deutlich schwieriger – durch seinen rechtlichen Status als eigenständige EU-Agentur ist Frontex zwar für die Umsetzung der Politik der Kommission verantwortlich, besitzt aber viel Handlungsspielraum. Die Vorwürfe, die im Sommer 2019 erneut hochkamen, nachdem es bereits 2011 starke Kritik an der Institution gab, beziehen sich vor allem auf zwei Fälle – eine fehlende Reform der Grundrechtestrategie und die Akzeptanz von gewalttätigen Pushbacks an der kroatisch-bosnischen Grenze seitens kroatischer Beamter. Frontex dementiert diese Vorwürfe natürlich – und es ist schwierig, diese Vorwürfe 100% zu beweisen. Dennoch muss man sie ernstnehmen und insbesondere das EU-Parlament seine Aufsichtspflicht wahrnehmen.

Athen setzt für einen Monat das Recht auf Asyl aus – wie ist das möglich?
Eigentlich sollte es nicht möglich sein – Asyl ist ein Grundrecht, sowohl in der EU als auch auf internationaler Ebene. Da es aber aufgrund der Dublin-Regulierung in diesem Fall Aufgabe des griechischen Staates ist, Geflüchtete zu registrieren, tut sich die griechische Regierung leicht, neuankommenden Geflüchteten die Registrierung zu verweigern. Dazu verlässt sie sich aber auch auf gewalttätige Interventionen. Die Kommission wäre hier als "Hüterin der Gesetze" gefragt zu intervenieren – deshalb halte ich es für besonders bedenklich, dass Kommissionspräsidentin Von Der Leyen Griechenland volle Unterstützung zusagt, ohne die Aussetzung des Asylrechts zu kritisieren.

»Asyl ist ein Grundrecht, sowohl in der EU als auch auf internationaler Ebene«

Könnten andere Länder diesem "Beispiel" folgen?
Ungarn ist diesem Beispiel bereits gefolgt und hat sich in diesem Kontext auch auf die Gefahr durch das Coronavirus bezogen. Dieser Mix ist potenziell toxisch – und könnte dazu führen, dass weitere Staaten in den nächsten Wochen diesem Beispiel folgen. Da ist die Kommission gefragt, dem entgegenzusteuern.

Manche fordern eine europäische Lösung für die Verteilung von Geflüchteten. Einige EU Staaten lehnen dies vehement ab. Fehlt es hier an Gesetzen?
Es fehlt vor allem an einer gemeinsamen Linie, Migration nicht als Sicherheitsbedrohung und Asyl als absolut schützenswertes Grundrecht zu betrachten. Erst, wenn sich diese Einstellung in der EU verbreitet hat, sind Gesetze möglich. Ein erster Schritt wäre die Abschaffung der Dublin-Regulierung, die beinahe den gesamten Druck an die Staaten an der Außengrenze transferiert. Es braucht also vor allem mehr Solidarität – untereinander, aber insbesondere gegenüber Migranten und Migrantinnen.

»Die mediterrane EU-Außengrenze gilt als die tödlichste Grenze der Welt«

Wie könnte Ihrer Meinung nach ein kooperativer europäischer Grenzschutz aussehen?
Ich möchte vorausschicken, dass die mediterrane EU-Außengrenze laut der International Organization of Migration als die tödlichste Grenze der Welt gilt – noch vor der stark militarisierten US-Grenze zu Mexiko. Kooperativer Grenzschutz muss also als primäres Ziel haben, diesen Zustand zu ändern. Das bedeutet konsequente Zusammenarbeit in der Seenotrettung und in der Schaffung sicherer Routen. Ebenso müssen Asylverfahren auf europäischer Ebene schnell abgewickelt werden. Derzeitige EU-Initiativen zielen insbesondere darauf ab, den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern – nutzt man dieses Potenzial für die Seenotrettung, Asylverfahren und Kontrollen gegen Schmuggel oder Menschenhandel, wäre eine gemeinsame Politik an der Außengrenze möglich.

Ist das überhaupt ein Ziel der EU?
Ja! Es wurden zahlreiche Initiativen der Europäischen Kommission gestartet, die Grenzkontrolle zu europäisieren. Auch die Aufstockung von Frontex deutet daraufhin, einen gemeinsamen europäischen Grenzschutz installieren zu wollen. Vor allem von Seiten der Kommission ist dies definitiv ein Ziel. Etwas anders schätze ich die Perspektive in den Mitgliedsstaaten ein – Grenzschutz wird nach wie vor als Ausdruck staatlicher Souveränität gesehen, Nationalstaaten sind tendenziell eher nicht willens, diese Kernkompetenz auf die europäische Ebene zu übertragen

Könnte die Migrationsbewegung auch als Chance für die EU gesehen werden?
Dafür müssten zwei Sachen passieren – erstens müsste im Rahmen des derzeitigen Systems eine humane Lösung für die Situation an der griechisch-türkischen Grenze gefunden werden. Das hieße, die 14.000 an der griechisch-türkischen Grenze gestrandeten Personen aufzunehmen und die Situation auf Lesbos zu entschärfen. Zweitens müsste sich das Paradigma, Migration primär als Sicherheitsthematik zu betrachten, ändern. Sicherheit an der Grenze ist wichtig – allerdings primär für jene, die sie überqueren. Es braucht – wie bereits angesprochen – konsequente Lösungen in der Seenotrettung, in der Beschleunigung der Asylverfahren, im sicheren Übertritt. Wenn das Leid an den Grenzen aufhört, können effektive Kontrollsysteme – etwa gegen Schmuggel und Menschenhandel – geschaffen werden.

»Eher glaube ich, dass die derzeitige Migrationspolitik eine Chance zum Scheitern bietet«

Die Wahrscheinlichkeit dafür stufe ich allerdings sehr gering ein. Eher glaube ich, dass die derzeitige Migrationspolitik eine Chance zum Scheitern bietet. Aussagen wie jene von Kommissionspräsidentin Von der Leyen, Griechenland sei der "Schild Europas", erinnern von der Rhetorik mehr an "Festung Europa" als an die Wertegemeinschaft, die die EU gerne wäre. Auch die Hinnahme, dass zwei Mitgliedsstaaten das Recht auf Asyl aussetzen, halte ich für ein fatales Zeichen. Solange sich in der Migrationspolitik nicht grundsätzlich etwas ändert, werden Krisenszenarien wie das derzeitige immer wieder entstehen.

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