When East meets West – der neue autoritäre Nationalismus und seine Demokratiefeindlichkeit drohen zu einem gesamteuropäischen Problem zu werden

When East meets West – der neue autoritäre Nationalismus und seine Demokratiefeindlichkeit drohen zu einem gesamteuropäischen Problem zu werden

Gastkommentar in der NZZ von Vedran Dzihic
20.8.2020

When East meets West – der neue autoritäre Nationalismus und seine Demokratiefeindlichkeit drohen zu einem gesamteuropäischen Problem zu werden

Schon länger liessen wirtschaftliche Unsicherheit und Flüchtlingskrise osteuropäische Staaten in einen nationalistischen Autoritarismus abdriften. Das Modell droht nun auf den Westen überzuspringen. Die EU muss im Namen der Demokratie entschieden dagegenhalten.

Ivan Krastev gilt als einer der hellsten intellektuellen Köpfe Europas. In seinem neuen Buch «Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert» fragt er sich, wie Corona die alten Gewissheiten auflöst und kollektive Vorstellungen von dem, was möglich ist, verändert. Zweifellos verändert die Covid-19-Pandemie nicht nur die Welt, sondern auch Europa. Die grosse strukturelle Verschiebung in den europäischen Demokratien – vor allem in den relativ jungen Demokratien im Osten und Südosten – vollzieht sich aber nicht erst seit heute. Sie kommt in vielen kleineren Schritten daher, die sich unschwer zum grösseren Bild einer «Demokratiedämmerung» (Anne Applebaum), geprägt von einem autoritären und demokratiefeindlichen Nationalismus, fügen lassen.

In Polen scheint sich nach der knappen Wahl von Andrzej Duda der Feldzug gegen die LGBT-Gruppe zu intensivieren. Duda führte einen hitzigen und polarisierenden Wahlkampf, in dem die Verteidigung des «wahren» Polen gegen die «LGBTQ»-Ideologie ein Hauptthema war. Neulich wurden LGBTQ-Aktivistinnen und -Aktivisten in Warschau verhaftet. Nach dem Sieg von Duda wird sein Lehrmeister Kaczynski die Arbeit an seinem Herzensprojekt, der umstrittenen polnischen Justizreform, wohl weiter betreiben, allem Widerstand vonseiten der EU zum Trotz.

Der Mythos nationaler Auferstehung

In der Beharrlichkeit des Demokratieabbaus ist der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban bereits ein Grossmeister. Nach dem Brüsseler Budget-Marathongipfel wehrte er sich heftig gegen die Kritik am Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und gegen die «obskuren» und «diffusen» Vorwürfe mangelnder Pressefreiheit. Kaum war er nach Budapest zurückgekehrt, vollzog sich der letzte Akt in der Demontage des freien und unabhängigen Online-Medien-Portals «Index». Seit Jahren bereits wird von nationalkonservativer Seite jede Kritik an Orban als Verrat an dessen Vision der Auferstehung eines neuen, stark auf eine Führerfigur zentrierten Ungarn gebrandmarkt.

Im Nachbarland Serbien kann Aleksandar Vucic seit den Wahlen im Juni uneingeschränkt seinen autoritären Kurs fortsetzen. Gegen die Demonstranten wendete er jüngst brutale polizeiliche Gewalt an. Vucic liess auch die Behörden gegen unabhängige und regierungskritische NGO sowie Personen aus deren Umfeld vorgehen – wegen des angeblichen Verdachts auf Geldwäsche. Ähnlich wie seine Kollegen in Ungarn und Polen appelliert dabei auch Vucic stets an das «Volk», dessen Definition er auch gleich mitliefert – das Volk nämlich sind jene Serben, die ihn und seine Partei unterstützen. All die anderen, die Kritiker des Regimes, gehören zu «falschen» Serben, die sich gegen den angeblichen Fortschritt wehren.

Die zunehmend autoritäre Herrschaftspraxis wird auch hier geschickt mit moralischen Appellen an das «richtige» Volk verbunden. Nichts anderes macht in der Türkei Recep Tayyip Erdogan. Seit Jahren setzt er konsequent auf eine Mischung aus starker Kontrolle des Staates wie der Institutionen und einem aggressiv vertretenen, mythisch-religiös aufgeladenen Nationalismus. Parallel zur Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee erfolgte der Vorstoss zur strengeren Kontrolle von sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook, über die sich zuletzt vorwiegend regimekritische Türken zu mobilisieren wussten.

Sichtbar werden in allen erwähnten Ländern die Umrisse eines neuen Autoritarismus, der sich mit einem moralisierenden Nationalismus gegen Kritik im Inneren und von aussen immunisiert und dem Regime die Legitimität verleiht. Wie kam es dazu?

Seit einiger Zeit lässt sich angesichts der rapide voranschreitenden neoliberalen Globalisierung ein relativer Kontrollverlust der Nationalstaaten feststellen. In den Ländern des europäischen Ostens und Südostens liefen nach 1989 die Dinge gut, solange der Einzelne sich auf der Gewinnerseite der demokratischen und wirtschaftlichen Transition wähnen konnte. Spätestens mit dem Beginn der globalen Finanzkrise 2008 begann das Zeitalter einer neuen grossen Verunsicherung, die das Individuum und seine Identitäten infrage stellte. Ein Meilenstein negativer Befindlichkeit war dann die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 – zur wirtschaftlichen Ungewissheit kam eine mentale und kulturelle Krise, die in weiten Teilen der Bevölkerung Widerhall fand.

Demokratie, ein lästiges Anhängsel

In vielen Staaten des europäischen Ostens und Südostens etablierten sich endgültig neue Machtstrukturen. Starke Männer traten mit dem Versprechen an, die Kontrolle wiederherzustellen, Sicherheit zu garantieren und dem «Volk» Identität und nationalen Stolz zurückzugeben. Figuren wie Orban, Kaczynski und Vucic setzten auf eine Abrechnung mit den nach 1989 zaghaft gewachsenen Strukturen demokratischer Herrschaft, getrieben von unbändigem Machtpragmatismus und narzisstischer bis messianischer Selbstwahrnehmung. Die liberale Demokratie wurde dabei zu einem lästigen Anhängsel. Erdogan wird oft mit den Worten zitiert, dass «die Demokratie ein Mittel, kein Ziel [sei], eine Strassenbahn, von der wir abspringen, wenn wir am Ziel sind». Solches dürfte so mancher autokratische Politiker in Osteuropa problemlos unterschreiben.

Der Prozess der schleichenden Autokratisierung der osteuropäischen Gesellschaften wurde von einem neuen, hypermoralisierenden Narrativ begleitet, das die Nation in «gut» und «böse» unterteilt. Die starken Männer erhoben noch stets den Anspruch, definieren zu können, wer die «wirklichen» und «guten» Bürger sind (authentische Türken, echte Serben, stolze Polen und feurige Ungarn) und wer im Grunde genommen nicht dazugehört. Die politische Polarisierung hat den dominanten Parteien geholfen, die Gesellschaft entlang eines Freund-Feind-Schemas einzuteilen, in dem jeglicher Dissens und jede Kritik an der Regierungspartei als Verrat an «der nationalen Sache» delegitimiert wurde. Begleitet wurde dies von neuen Feindbildern, die angeblich die Sicherheit und die nationale Identität bedrohen. In der Figur des muslimischen Flüchtlings, des LGBTQ-Aktivisten oder in der Gestalt des liberalen Financiers und Grosssponsors George Soros suchte und fand man den äusseren Feind. Und brandmarkte damit zugleich jene Kräfte im Inneren, die angeblich ideologisch auf derselben Linie liegen.

Die EU hat bis heute keine Antwort auf diesen neuen Autoritarismus und seine Symbolfiguren gefunden. Dabei wird es immer schwieriger, die Grenzen zwischen der liberalen Demokratie und ihren «giftigen Doppelgängern» (Ivan Krastev) zu ziehen. Bald sind es beinharte Interessen der EU (wie z. B. an der Aufrechterhaltung des Flüchtlingsdeals mit der Türkei), welche die Kritik an den einzelnen Regimen unmöglich machen. Bald verhindern interne Dilemmata innerhalb der europäischen Parteienfamilien, vor allem in der Europäischen Volkspartei, ein entschiedenes Vorgehen gegen Ungarn oder Polen. Das Tauziehen über den Umgang mit den Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit beim letzten EU-Gipfel in Brüssel zeugte einmal mehr von dieser akuten Schwäche.

Offene Konkurrenz

Klar ist dies: Mit einer lauwarmen Einstellung zur Frage der Aushöhlung der Demokratie sowie mit faulen Kompromissen in der Frage der Rechtsstaatlichkeit wird es keine «EU der nächsten Generation» geben können. Die Corona-Krise wird mit einiger Gewissheit den rechten, xenophoben und exkludierenden Nationalismus in ganz Europa stärken. Die in Ost- und Südosteuropa grassierende Gestalt des giftigen Doppelgespanns von übersteigertem Nationalismus und autoritärer Herrschaft macht sich seit geraumer Zeit auch im Herzen der westlichen Demokratien breit. Dass Donald Trump jenseits des Atlantiks ziemlich gleich tickt, verstärkt diese Gefahr zusätzlich.

Das Zeitalter der Demokratisierung seit 1989 ist von einer sehr viel pluraleren und offeneren Ära der offenen Konkurrenz zwischen Demokratien und Autokratien abgelöst worden. Die nähere Zukunft Europas wird von diesem Ringen geprägt sein. Eine Wendung zum Guten wird von der Fähigkeit und Bereitschaft der EU abhängen, ihr gesamtes politisches Kapital in die Verteidigung der liberalen Demokratie und der offenen Gesellschaft zu werfen. Wenn die brutale Gewaltausübung des vom Sturz bedrohten weissrussischen Regimes unter Lukaschenko in diesen Tagen eines zeigt, dann, dass Taktiererei und Pragmatismus Autokraten weder zu zähmen noch sie zur Demokratie zu bekehren vermögen. Für ihre eigene politische Zukunft muss sich die EU unzweideutig mit jenen Bürgern und Bürgerinnen solidarisieren, die in Minsk, Belgrad, Warschau, Budapest und vielen anderen europäischen Städten fast alles für ein besseres Leben in Freiheit und Gerechtigkeit zu riskieren bereit sind.

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