In Serbien liegt die Hoffnung auf den Schultern der Studierenden

In Serbien liegt die Hoffnung auf den Schultern der Studierenden

Vedran Džihić
Senior Researcher

Der Standard / Kommentar der anderen von Vedran Džihić
30. August 2025

Seit Monaten kommt es im Land zu Protesten gegen das Regime von Aleksandar Vučić. Zuletzt ist die Gewalt gegen junge Demonstrierende eskaliert. Zwei Szenarien, wie es in Serbien weitergehen könnte

In seinem Gastkommentar widmet sich der Südosteuropa-Experte Vedran Džihić der Welle der Gewalt gegen die Anti-Regime-Proteste. Nur neue Kräfte wie die Studierendenbewegung könnten in Serbien eine gerechte demokratische Gesellschaft und Staatlichkeit organisieren.

"Wenn ich zufällig die letzten dreißig Jahre durchgeschlafen hätte, würde ich heute nicht wissen, ob ich im Milošević- oder Vučić-Serbien aufgewacht bin", schrieb vor wenigen Tagen Aurelija Djan, eine junge Psychotherapeutin und Kolumnistin aus Belgrad. In welchem Serbien sind die Menschen heute Früh aufgestanden?

Die ungezügelte Gewalt, die vor 30 Jahren Serbien im Würgegriff hielt, ist zurückgekehrt. Bilder von regimekontrollierten Schlägertrupps auf den Straßen serbischer Städte und vom brutalen Vorgehen der serbischen Polizei gegen junge Demonstrierende erinnern frappant an die 1990er-Jahre, als Slobodan Milošević das Land regierte. Dass es heute, nach mehr als neun Monaten der friedlichen Anti-Regime-Proteste, zu einer Explosion der Gewalt kommt, verrät Grundlegendes über den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić: Sein Regime hat das Prinzip der legitimen Staatsgewalt in ein Gewaltverbreitungsmonopol umgekehrt, das nur einem Ziel dient – der Absicherung der puren Macht. Als Resultat befindet sich Serbien im Dämmerzustand, ja sogar in einem kollektiven gesellschaftlichen Trauma, aus dem sich – derzeit zumindest – kein Weg heraus abzeichnet.

Noch mehr Gewalt?

Die Explosion der Gewalt in den vergangenen Wochen zeigt, dass dem Regime Ideen und Hebel für den Umgang mit den Protesten ausgehen. Bürgerinnen und Bürger Serbiens haben längst die Angst abgelegt. Die Proteste nehmen auch nach mehr als neun Monaten nicht ab. In vielen kleineren Städten und Gemeinden scheint die einst mächtige Serbische Fortschrittspartei (SNS) nur mehr ein Schatten ihrer selbst zu sein. Die Abwärtsspirale ist nicht mehr aufzuhalten.

Vučić versucht, mit einem Doppelnarrativ zu reagieren: Studierende und Protestierende werden pausenlos attackiert, als Faschisten diffamiert und als Quelle der Gewalt bezeichnet. Parallel zu seinem jüngsten Aufruf zum Dialog, der eine pure zynische Geste ist, verstärkt er – auch über internationale Kanäle – den Druck auf unabhängige Medien wie N1 und Nova. Dazu kommt das Versprechen von Geschenken – alles wird billiger, besser, schöner. Das ist die Fortschrittsrhetorik, die die Menschen nur zu gut kennen und die sich längst leergelaufen hat. Vučićs Danaergeschenken glaubt kaum mehr jemand.

Eine Rückkehr zum Status vor November 2024 ist auszuschließen. Damals starben in Novi Sad 16 Menschen bei dem Einsturz eines renovierten Bahnhofsvordachs, was die landesweite Protestwelle erst auslöste. Ein mögliches Szenario wäre eine weitere Eskalation der Gewalt. Doch mit noch mehr Repression würde Serbien unverhohlen in Richtung eines offen autoritären und nahezu diktatorischen Polizeistaats abrutschen. Es ist fraglich, ob Vučić das riskieren will und kann – schließlich hängt er, vor allem wirtschaftlich, stark von europäischen Staaten und dem Westen ab. Fraglich ist auch, ob und wie lange der Polizeiapparat mitmachen würde.

Oder Neuwahlen?

Das zweite Szenario wäre die Ausrufung von Neuwahlen. Diese fürchtet das Regime derzeit, wohl auch weil man nicht mehr siegesgewiss ist und sie kaum wieder im großen Stil manipulieren kann. Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass Vučić Unterstützung verliert und die studentische Liste vorne liegt.

Studierende und Protestierende sollten in den kommenden Wochen und Monaten auf Gewaltlosigkeit als dem obersten Prinzip ihres Kampfes beharren. Sie brauchen Ausdauer, Energie und viel Kreativität und Anpassungsgabe im Umgang mit dem Regime. Von rechtsextremen und nationalistischen Kreisen, die in sozialen Medien versuchen, Proteste zu unterwandern und wohl auch zu diskreditieren, muss sich die Bewegung distanzieren. Die ideologischen Sackgassen, darunter auch jene eines bornierten serbischen Nationalismus, der da und dort – sicherlich nicht in der Mehrheit – bei den Protesten sichtbar war, müssen überwunden und in Richtung eines gesunden demokratischen Patriotismus entwickelt werden.

Eine Katharsis wird ein Serbien nach Vučić langfristig brauchen. Was das Land aber vor allem braucht, und darauf sollten die Studierenden pochen, ist die Schaffung von demokratischen und transparenten Institutionen, Rechtsstaatlichkeit, von freien Medien und einer informierten Öffentlichkeit. Wie sich im Serbien der Zukunft eine gerechte demokratische Gesellschaft und Staatlichkeit organisieren ließe, können nur neue Kräfte liefern.

Klare Worte

Die EU schwieg bisher – bis auf wenige Ausnahmen. Bei Serbien als Kandidatenland und dem größten Staat im strategisch und geopolitisch so wichtigen europäischen Vorhof, am Westbalkan, weiterhin Augen zuzumachen und auf pragmatischen Umgang mit dem Regime zu setzen, ist heuchlerisch. Ohne klare Worte aus Brüssel, aber auch aus europäischen Hauptstädten von Berlin über Paris, London bis nach Wien, ist die Gefahr groß, dass die Situation weiter eskaliert.

Bei Neuwahlen, die irgendwann unweigerlich kommen müssen, muss die EU alles daransetzen, dass diese unter fairen und halbwegs freien Bedingungen stattfinden können. Ein Scheitern wäre nicht nur ein kolossales Scheitern am eigenen Anspruch einer normativen und außenpolitisch handlungsfähigen EU, sondern auch eine folgenschwere Kapitulation im Umgang mit den Autokraten und Despoten dieser Welt.