"Wir sind alle Nikolina": Proteste gegen Vučić-Regierung nehmen wieder zu

"Wir sind alle Nikolina": Proteste gegen Vučić-Regierung nehmen wieder zu

Vedran Džihić
Senior Researcher

derstandard.at
19. August 2025
Interview mit Vedran Džihić

Die serbische Regierung habe alle Mittel ausgeschöpft, um die monatelangen Proteste zu beenden – deshalb eskaliere nun die Situation, meint Politologe Vedran Džihić.

Am Dienstag fand in Belgrad wieder eine Kundgebung von Studierenden statt, die seit Monaten faire und freie Neuwahlen in Serbien fordern. In den vergangenen zehn Tagen war es in vielen Städten zu Gewalt gekommen. Anhänger der regierenden Fortschrittspartei SNS hatten Demonstrierende geschlagen, die Polizei stellte sich auf die Seite der Regierungspartei und übte selbst schwere Gewalt gegen Demonstrierende aus. Dutzende Studierende wurden festgenommen.

Ein Polizeikommandant hatte am 14. August der Studentin Nikolina Sinđelić angedroht, sie zu vergewaltigen, und hatte sie geschlagen. Deshalb stand die Solidarität für Sinđelić auch im Mittelpunkt der Demo in Belgrad, die unter dem Motto "Wir sind alle Nikolina" stand. Die Demonstranten trugen Transparente mit den Aufschriften "Wer schützt uns vor der Polizei?" oder "Gewalt gegen Frauen ist ein Staatsverbrechen".

Der Südosteuropa-Experte Vedran Džihić vom Österreichischen Institut für Internationale Politik (OIIP) meint, dass das Vorgehen des Regimes zeige, dass das Gewaltmonopol des Staates in ein "Gewaltverbreitungsmonopol" umgekehrt worden sei. Sowohl die Entsendung von Schlägertrupps durch die Regierungspartei SNS als auch die Gewaltsprache in deren Medien zeige, dass das derzeitige Herrschaftsprinzip auf Angst und Gewalt beruhe.

"Kontrollverlust"

"Das Regime leidet unter Kontrollverlust", so Džihić zum STANDARD. Präsident Aleksandar Vučić habe alle Mittel ausgeschöpft und sehe keinen Ausweg mehr. "Das Regime hat die Demonstrierenden beschwichtigt, mit Gewalt reagiert, Ablenkungsmanöver und mediale Kampagnen gestartet und darauf gesetzt, dass die Proteste über den Sommer abflauen und verschwinden. Aber das hat nicht funktioniert, deshalb eskaliert man nun." Vučić wolle keine Wahlen, weil er fürchte, diese nicht ausreichend manipulieren zu können, meint Džihić. Die Opposition habe neue Kraft gewonnen und könnte bei Neuwahlen zeigen, wie unpopulär die SNS mittlerweile sei.

Das Regime versucht es deshalb mittlerweile mit einer Verschwörungserzählung neuen Stils. So behauptete Parlamentspräsidentin Ana Brnabić, dass Bürgerinnen und Bürger selbst das Vordach des Bahnhofs in Novi Sad zum Einsturz gebracht hätten, um eine Revolution in Gang zu bringen und die Regierung zu stürzen. Tatsächlich war das Vordach am 1. November eingestürzt, weil die Renovierung unsachgemäß durchgeführt worden war. Bei dem Einsturz kamen 16 Menschen ums Leben. Ab November 2025 gingen deshalb hunderttausende Serbinnen und Serben auf die Straße, um Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und verantwortliches Regierungshandeln einzufordern.

Das Regime versuche nun nach diesen monatelangen Protesten das Narrativ zu verbreiten, dass Serbien in einen Bürgerkrieg schlittere, analysiert Džihić. Auf der einen Seite lobten die Regierungsmedien die Vučić-Anhänger und behaupteten auf der anderen Seite, die Demonstrierenden sorgten für Chaos und seien vom Ausland gesteuert. "Die Gewalt auf den Straßen führt aber auch dazu, dass das Vertrauen in die SNS sinkt, weil Vučić auch zeigt, dass er nicht für Ruhe sorgen kann."

Schlägertrupps

Durch die Aktionen der SNS-Schlägertrupps und die Polizeigewalt stiegen auch die Wut und der Zorn in der Protestbewegung, erklärt Džihić. Deshalb sei es jetzt besonders wichtig, dass diese sich auf die Kernforderungen nach mehr Rechtsstaatlichkeit konzentriere und nicht dem Bürgerkriegs-Narrativ des Regimes zuspiele. "Denn die Gewalt wird vom Regime gepusht."

Angesichts der wiederkehrenden Bilder von Prügel-Polizisten in Serbien komme nun auch für Politiker in der EU die Zeit, "in der man nicht mehr schweigen kann", sagt der Politologe. "Die Freunde von Vučić, der deutsche Kanzler Friedrich Merz und der französische Präsident Emmanuel Macron, müssten etwas sagen. Denn die EU trägt Verantwortung, und in einem EU-Kandidatenland kann man so eine Gewalt nicht dulden. Ich erwarte, dass die Situation in Serbien im Herbst auch innerhalb der EU auf der Tagesordnung stehen muss."