Serbien und die ersten Wahlen in Europa im Zeitalter von Covid-19. Eine Kurzanalyse in drei Akten

Serbien und die ersten Wahlen in Europa im Zeitalter von Covid-19. Eine Kurzanalyse in drei Akten

Zusammenfassung

Am 21. Juni 2020 fanden in Serbien die Parlamentswahlen statt. Dies waren die ersten Wahlen, die in Europa in Zeiten der Covid-19 Pandemie abgehalten wurden. Die Parlamentswahlen fanden vor dem Hintergrund der Erosion demokratischer Werte und Institutionen und dem Aufstieg autoritärer Ten-denzen in Serbien statt. Aleksandar Vučić und seine Serbische Fortschrittspartei SNS konnten bei einer geringen Wahlbeteiligung und unter Wahlboykott von Teilen der Opposition die Wahl mit einer über-wältigenden Mehrheit für sich entscheiden. Die Wahlen verdeutlichten nicht nur den fahrlässigen und opportunistischen Umgang der Regierenden mit der Pandemie, sondern es kamen allgemein auch die strukturellen Schwächen der staatlichen Institutionen und des relativ jungen demokratischen Systems zum Vorschein. Nach der Wahl ist Serbien nun de facto ein Einparteienstaat. Diese Kurzanalyse analy-siert in drei Akten die Rahmenbedingungen für die Wahlen, die Ergebnisse sowie die langfristigen strukturellen Folgen dieser Wahl für die serbische Demokratie. Sie geht aber auch der Frage nach, ob sich der Wahlsieg womöglich als Pyrrhussieg für den „starken Mann“ Serbiens, Aleksandar Vučić, erweisen könnte.

Keywords:
Serbien, Covid-19-Pandemie, Autoritarismus, Demokratie, Wahlen

Die oiip Corona-Papers sind eine Serie von Kurzanalysen, die sich mit der Pandemie und ihren Auswirkungen auf die internationale Politik auseinandersetzt.

 

Akt 1: Rahmenbedingungen für die Wahlen in Serbien: „Phantom-Demokratie“ inmitten der Covid-19-Pandemie

Die Parlamentswahlen in Serbien am 21. Juni 2020 waren die ersten Wahlen, die in Europa in Zeiten der Covid-19 Pandemie abgehalten wurden. Die Pandemie ist in Serbien alles andere als besiegt. Nach einem kurzen Abflachen der Kurve ab Ende April stieg sie im Juni 2020 wieder relativ stark an. Zwischen 25. Mai 2020 und 29. Juni 2020 kam es zu mehr als 3.247 Neuinfektionen. Die Gesamtzahl der Infizierten stieg in diesem Zeitraum somit von 11.159 auf  14.406.[1] Die Zahl der Neuinfektionen stieg also parallel zur finalen Phase des Wahlkampfs sehr schnell an. Ende Juni mehrten sich sogar die Berichte, dass die Regierung die offizielle Anzahl der Covid-19-Infektionen in der intensiven Phase des Wahlkampfes und danach bewusst niedrig hält und das wahre Ausmaß des Problems zu vertuschen versucht. Laut lokalen Quellen von Journalisten und Ärzten sowie zahlreichen Berichten von BürgerInnen findet in einigen Städten Serbiens eine explosionsartige Verbreitung des Virus statt, die zu hunderten Infektionen pro Tag und mehreren Toten führt, die in offiziellen Statistiken nicht aufscheinen. Ende Juni war vor allem die Situation in der südserbischen Stadt Novi Pazar dramatisch, wo das Gesundheitssystem angesichts der hohen Anzahl von Erkrankten zusammenbricht und dramatische Hilfsappelle die Öffentlichkeit erreichen.[2]

Parallel zu den gesundheitlichen Aspekten der Covid-19-Pandemie war auch der politische Umgang mit der Krise von starken Oszillationen gekennzeichnet. Kurz bevor die Pandemie Serbien erreichte, machte sich Staatspräsident Aleksander Vučić noch über das „lächerlichste Virus der Geschichte“ lustig. Recht schnell danach wechselte allerdings die Rhetorik, Vučić sprach mit besorgter Miene von Friedhöfen voller Covid-19-Toten und rief den Krieg gegen das Virus aus. Dies beinhaltete auch die Ausrufung des Ausnahmezustandes, der auf eine verfassungsmäßig fragwürdige Art und Weise vorbei am serbischen Parlament eingeführt wurde. Es wurden polizeiliche Sperrstunden über mehr als 80 Stunden ausgerufen, Polizei und Militär patrouillierten die Straßen. Verstöße gegen die Sperrmaßnahmen wurden zum Teil mit drakonischen Strafen geahndet, der Druck auf unabhängige Medien und Journalisten stieg.

Entgegen der eigentlich repräsentativen Rolle des Amtes des Staatspräsidenten, war Präsident Vučić in den Medien als Vater der Nation und oberster Krisenmanager omnipräsent. Vučić inszenierte sich geschickt in dieser Zeit des Wahlkampfes als kompetenter Führer mit umfassender Macht, der diese zum Wohl des Volkes aufopferungsvoll einsetzt. Der Ausnahmezustand wurde, auch angesichts der anstehenden Parlamentswahlen, schnell zu einem Instrument, dass für die Demonstration der Macht des Regimes und seines Führers dient.

So schnell wie der Ausnahmezustand kam, wurde er wieder – und dies inmitten der Corona-Krise – ad acta gelegt, nur um zu verkünden, dass Serbien am 21. Juni wählen soll. Der ursprüngliche Wahltermin im April 2020 wurde auf Grund der Pandemie verschoben. Trotz der weiterhin vorhandenen Infektionen leitete Vučić nach 52 Tagen des Ausnahmezustandes abrupt die Öffnung des Landes ein und verkündete aus Sicht der Opposition vorschnell den neuen Wahltermin.  Der Ton seitens des Präsidenten und der Regierung veränderte sich rasch, man sprach im Hinblick auf die bevorstehende Wahl von einer relativ stabilen Situation und davon, dass die neuen Covid-19-Fälle milder verlaufen würden. Wie bereits erwähnt, gibt es auch deutliche Hinweise darauf, dass die Regierung die Anzahl der Infizierten und Toten im Vorfeld der Wahlen bewusst niedrig hielt bzw. nicht weitergab, um den Wahltermin am 21. Juni und damit aber vor allem auch den Wahlsieg der SNS nicht zu gefährden.[3] Im Vorfeld der Wahlen wurde die Öffnung des Landes betrieben. Immer mehr Einschränkungen wurden aufgehoben. Ein Fußballspiel in Belgrad vor 16.000 Fans im Stadium, bzw. die Bilder von Vize-Premierminister Rasim Ljajić, die diesen dabei zeigen, wie er auf der Abschlusskundgebung seiner Partei in Novi Pazar von der Bühne in die euphorische Menge springt, zeugen von einem immer lockereren Umgang mit dem Virus und erklären zum Teil das Wiederansteigen der Infektionszahlen.

Insgesamt, verdeutlichten die Wahlen nicht nur den fahrlässigen und opportunistischen Umgang der Regierenden mit der Pandemie, sondern es kamen allgemein auch die strukturellen Schwächen sowie die Schwächen der staatlichen Institutionen und des relativ jungen demokratischen Systems zum Vorschein.

Die Parlamentswahlen fanden vor dem Hintergrund der Erosion demokratischer Werte und Institutionen sowie dem Aufstieg autoritärer Tendenzen statt. Betrachtet man die demokratische Entwicklung der letzten zehn bis fünfzehn Jahre anhand von Demokratie-Indizes wie des „Bertelsmann Transformation Index“ oder dem „Nations in Transit“ Index, dann zeigt sich der kontinuierliche Trend der Stagnation in der demokratischen Entwicklung. So stuft auch der neueste Bericht von „Freedom House“ Serbien nicht als liberale Demokratie, sondern als „hybrides Regime“ ein.[4] Freedom House spricht Serbien den Demokratiestatus ab, da demokratische Standards untergraben werden, seit Jahren die Politik vereinnahmt wird, Machtmissbrauch vorherrscht und Präsident Vučić „Strongman-Taktiken“ anwendet. Explizit kann in Staaten wie Serbien nur mehr von einer demokratischen Fassade gesprochen werden. Auch wenn das Innere der Demokratie weitgehend ausgehöhlt ist, versucht die Regierung mit aller Macht diese aufrechtzuerhalten. John Keane, der australische Demokratieforscher, verwendet in seinem jüngst erschienen neuen Buch „The new despotism“ für Regime wie Serbien den Begriff der „Phantom-Demokratie“ und spricht in diesem Zusammenhang von „Phantom-Wahlen“, als einem zentralen Bestandteil der demokratischen Fassade.[5]

Wie dünn diese demokratische Fassade in Serbien inzwischen ist, zeigt auch der Kontext in dem die Wahlen für den 21. Juni ausgerufen wurden. Da es keinen zwingenden Grund für die Abhaltung der Parlamentswahlen während der Pandemie gab, deutet die Entscheidung, zu diesem Zeitpunkt Parlamentswahlen abzuhalten darauf hin, dass Präsident Vučić diese aus reinem Machtkalkül für Juni 2020 ansetzte. Die Abhaltung der Parlamentswahlen zu Zeiten von Covid-19 schränkten die Möglichkeiten der Opposition weitgehend ein. Angesichts der zum Teil noch in Kraft befindlichen Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie, wie z.B. dem Verbot von größeren öffentlichen Versammlungen bzw. der nahezu vollständigen Kontrolle der Institutionen und der Medienlandschaft, waren schlicht keine Voraussetzungen für einen fairen und freien demokratischen Wahlkampf in Serbien gegeben. Präsident Vučićs Serbische Fortschrittspartei (SNS) dominierte unangefochten.

Auffallend war vor allem die Tatsache, dass Aleksandar Vučić die Liste der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) anführte, obwohl dies laut der serbischen Verfassung für einen eigentlich überparteilichen Präsidenten, in einem repräsentativen Amt nicht erlaubt ist. Der verfassungsmäßig zu Unparteilichkeit verpflichtete Präsident Aleksandar Vučić war während des kurzen Wahlkampfes de facto auch das einzige Gesicht der gesamten SNS-Kampagne. Präsident Vučić dominierte mit den Vučić-nahen Fernsehsendern und Boulevardblättern nahezu die gesamte mediale Öffentlichkeit. Die oppositionellen Politiker bekamen nur wenig Platz in der Berichterstattung. So wie bei den vorherigen Wahlen gab es auch diesmal keine Fernsehdebatten zwischen Vučić oder RepräsentantInnen der SNS und OppositionspolitikerInnen. Unterstützt wurde die umfassende Kontrolle der öffentlichen Debatten durch eine ganze Reihe von sogenannten „Trollen“ in sozialen Medien, die alles daransetzten, die Regierungspartei und Präsident Vučić in ein günstiges Licht zu rücken bzw. politische Gegner zu diskreditieren. Bereits im April 2020 löschte Twitter 8.558 serbische Konten, die an „unechten koordinierten Aktivitäten“ beteiligt waren und insgesamt 43 Millionen Tweets absetzten, die Vučić oder seine Partei kritisierten.[6] Die investigative Medienplattform BIRN analysierte einige dieser Tweeter-Konten und stellte fest, dass die eigentlichen Tweets in Geschichten eingebettet waren, die in weiterer Folge direkt von regierungsnahen Boulevardzeitungen wie Informer, Kurir und Espreso veröffentlicht wurden.

Ein weiterer relevanter Aspekt, der neben der Hegemonie in den Medien die Wahlen am 21. Juni definierte, war das immer wieder bediente Argument, dass es keine Alternative zu Präsident Vučić und seiner Partei gibt. Aleksandar Vučić bezeichnet seine Zeit der Regierung als „goldenes Zeitalter“, das Serbien Wohlstand bringe und dem Land eine prosperierende Zukunft garantiere. Dieser positiven Zukunftsprojektion des Fortschritts, so Vučić, solle und müsse alles andere untergeordnet werden. Um Fortschritt zu gewährleisten bedarf es, wie Präsident Vučić immer wieder betont, Reformen.

Eine weitere Erklärung für den Erfolg der SNS basiert auf der hohen Anzahl an Parteimitgliedern. Die Regierungspartei zählt derzeit mehr als 700.000 Mitglieder. In einem Land mit etwa 7 Millionen Einwohnern ist das eine beachtlich große Zahl. Parteimitgliedschaft ist in den meisten Fällen nicht ideologisch bedingt. Vielmehr wird die Mitgliedschaft zur SNS meist großzügig – mit Arbeitsplätzen, Vorteilen im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben oder anderen Begünstigungen bzw. einem einfacheren Zugang zu EntscheidungsträgerInnen, belohnt.

Die SNS in Serbien ist nicht nur ein Instrument, um Macht zu organisieren. Sie fungiert auch als klientelistische Struktur, die öffentliche Güter und staatliche Ressourcen innerhalb der parteidominierten Patronage-Netzwerke kontrollieren und verteilen kann. Zusätzlich zu den bestehenden Patronagenetzwerken konnte Präsident Vučićs zudem – pünktlich vor dem Wahltermin – durch die Auszahlung der sogenannten „Corona-Einmalhilfe“ von 100 Euro an jeden Serben und jede Serbin punkten. Die Ausschüttung von Hilfe verstärkte das Gefühl der materiellen Abhängigkeit von der Autorität und vertiefte das Gefühl der Treue und Verpflichtung gegenüber dem Präsidenten und seiner Bewegung.

Unter all diesen Rahmenbedingungen können Wahlen nur zu einer politischen Farce verkümmern. Die Parlamentswahlen vom 21. Juni 2020 erfüllten somit vor allem ihren Zweck, nämlich die Gunst der Stunde zu nützen, um die Mehrheit der Regierungspartei im Parlament weiter auszubauen und dem Präsidenten eine noch stärkere Kontrolle über die Legislative zu gewährleisten.

 

Akt 2: Wahlakt und Wahlergebnisse

Der erste oberflächliche Eindruck der Wahl in Serbien am 21. Juni suggeriert, dass es einen klaren Sieger gibt, Aleksandar Vučić, und dies obwohl dieser selbst gar nicht zur Wahl stand. Seine serbische Fortschrittspartei gewann rund 62% der Stimmen und erhielt 191 der 250 Sitze im Parlament, was ca. 76% der Sitze gleichkommt. Eine so große Mehrheit eröffnet Präsident Vučić und der SNS die Möglichkeit, die Verfassung zu ändern. Der bisherige Regierungspartner der SNS, die Sozialisten unter Führung von Außenminister Ivica Dacic, erreichten etwa elf Prozent der Wählerstimmen und sicherte sich damit 32 Mandate. Die neue Partei „Spas“ (Rettung) des ehemaligen Wasserballers Aleksandar Šapić kommt auf etwa vier Prozent der Stimmen und zwölf Mandate.

Die verbleibenden 16 Sitze werden von Parteien ethnischer Minderheiten gehalten, die ins Parlament auf Grund einer Sonderregelung einziehen können, ohne dass sie den Zensus von 3% erreichen mussten. Die Minderheitsparteien arbeiteten in der Vergangenheit aber – bis auf zwei albanische Abgeordnete aus den mehrheitlich albanischen Gemeinden Bujanovac und Preševo – alle mit der SNS zusammen und können daher dem Regierungsblock zugeordnet werden. Der Zensus wurde übrigens seitens der Regierung wenige Wochen vor der Wahl von 5% auf 3% gesenkt, vor allem mit der Absicht, die Wirkung des Wahlboykotts der Opposition zu schwächen. Die Opposition ist der größte Verlierer der demokratisch fragwürdigen Wahl vom 21. Juni. Ein Teil der Oppositionsparteien trat zur Wahl an, der andere Teil boykottierte die Wahl mit dem Hinweis auf die allumfassende Dominanz der SNS und von Präsident Vučić und die damit fehlende demokratische Legitimität der Wahlen. Bei einer Wahlbeteiligung, die laut der unabhängigen NGO CRTA bei rund 48% und damit 8-9% unter den vorherigen Parlamentswahlen im Jahr 2016 lag, schafften es die meisten zur Wahl angetretenen Oppositionsparteien, wie die Bewegung der freien Bürger unter der Leitung von Sergej Trifunovic (mit 1,5% der Stimmen) oder „Vereinigte Demokratische Serbien“ (mit 0,9%), nicht ins Parlament.

Die am Boykott beteiligten Oppositionsparteien zeichnen sich durch eine große ideologische Bandbreite und auch ziemlich große Uneinigkeit in der Frage des Umgangs mit dem Regime von Vučić aus. Die einst mächtige Demokratische Partei des ehemaligen Premierministers Djindjic, der 2003 ermordet wurde, war beispielsweise durch Streitigkeiten und Flügelkämpfe gelähmt und stellt deshalb derzeit keine realistische Alternative zur allmächtigen SNS dar. Unabhängig von der Einschätzung der demokratischen Qualität der Wahl wird es nun für die Oppositionsparteien, die nicht mehr im Parlament vertreten sind, schwieriger werden, ohne Finanzierung und funktionale operative Parteistrukturen eine starke Alternative zu Vučić anzubieten.

Nach der Wahl wurde über zahlreiche Unregelmäßigkeiten berichtet, die aber angesichts der enormen Dominanz der SNS diesmal offensichtlich darauf ausgerichtet waren, die Zahl der Wahlbeteiligung zu schönen. In einigen Wahllokalen soll nun die Wahl wiederholt werden. Da parallel zu den Parlamentswahlen auch Kommunalwahlen stattfanden, wird vor allem die Wahlwiederholung in der serbischen Stadt Šabac mit Aufmerksamkeit verfolgt werden. In Šabac, einer der wenigen Städte, die von einem oppositionellen Bürgermeister regiert wurden, wurden zahlreiche Unregelmäßigkeiten festgestellt, die zum Sieg der SNS auch in dieser Stadt geführt haben dürften. Unabhängig vom Ergebnis der Wahl in Šabac haben die Parlamentswahlen zur Einzementierung der Macht der SNS auf allen Ebenen geführt.

 

Akt 3: Serbien de facto ein
„Einparteienstaat“: Ausbau der Autokratie oder Pyrrhussieg für Vučić

Angesichts der oben geschilderten Rahmenbedingungen und der Ergebnisse der Wahl lässt sich schlussfolgern, dass die Legitimität der Wahlen vom 21. Juni schwach ist.  Angesichts der Sitzverteilung im neuen Parlament und der allumfassenden Kontrolle des Staates und der Gesellschaft durch die SNS und Präsident Vučić ist es berechtigt, dass man von Serbien als einem de facto ein Einparteienstaat spricht. Diese neue Form des Einparteienstaates hat starke Elemente von „Phantom-Demokratien“ (John Keane), in denen demokratische Kulissen in Form von Wahlen und Institutionen aufrechterhalten werden, de facto aber stramm autoritär regiert wird. Spezifisch für eine „Phantom-Demokratie“ ist die Berufung der “starken Männer“ dieser Regime auf Demokratie und Herrschaft des Rechts und eine Monopolisierung des Anspruchs auf Repräsentation des Volkes, die zur Festigung der Vormacht der dominanten Partei – in diesem Fall der SNS – in allen Bereichen der Gesellschaft beiträgt.  Damit zeigt sich auf einer strukturellen Ebene das zentrale Element der Herrschaft von Vučić, nämlich ein populistisches-autoritäres Muster des Regierens. Man gibt vor, alles für das Volk zu tun. Dabei wird die Kategorie des Volkes moralisiert und ein binärer Code eingeführt, der da immer lautet: wir, die wir an der Macht sind, repräsentieren das „richtige“, „gute“ Volk – die richtigen Serben, Bosniaken, Mazedonier, Albaner. Die anderen, also die politischen Gegner und insgesamt all diejenigen, die uns, die Regierung und die Machthaber kritisieren, sind das „falsch“ Volk, die Verräter des Landes. Diese Moralisierung des Volkes verstärkt die Polarisierung der gesamten Bevölkerung und schafft nahezu separate Realitätssphären, in denen die politischen Gegner und ihre Anhänger mit Hass und Verachtung auf die jeweils anderen blicken und von einer tiefen inneren Überzeugung getragen sind, im Recht zu sein. Beim Wahlakt liegt dann der Fokus darauf, die eigenen Anhänger zur Wahl zu bewegen, wenn notwendig auch mit Bestechung, Kontrolle und Überwachung aber vor allem mit dem Versprechen, dass sie auch weiterhin in der Lage sein werden, am Futtertrog des Staates und der Partei Vorteile zu bekommen. Das Ergebnis ist eben ein Einparteienstaat oder anders ausgedrückt eine Fassaden- oder Phantom-Demokratie, in der demokratische Verfahren und Prozeduren für die Stabilisierung des Regimes und den Ausbau der Macht  instrumentalisiert werden, die durch die dominante Partei und den starken Leader autoritär ausgeübt wird.

Angesichts der 2/3 Mehrheit der SNS im serbischen Parlament und der sehr geringen Wahlbeteiligung stellt sich die Frage, wie lange das Regime in der Lage sein wird, die demokratische Fassade aufrechtzuerhalten. Für Vučić wäre es allzu verlockend, die 2/3 Verfassungsmehrheit im Parlament für die de facto Schaffung eines Präsidialsystems in Serbien zu benutzen. Allerdings ist er auch jetzt bereits in der Lage, seine Partei, das Parlament und die staatlichen Institutionen nahezu vollständig zu kontrollieren und zu dominieren. Eine formale Ausweitung seiner Vollmachten würden ihn auch einer stärkeren Kritik aus der EU aussetzen, die seinem Image als pro-europäischer Pragmatiker schaden und ihn womöglich von wichtigen wirtschaftlichen Unterstützungen und Kooperationen mit der EU abschneiden würden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich ausgerechnet der größte Sieg von Vučić als Pyrrhussieg erweisen könnte. Das Argument ist einfach: Phantom-Demokratien müssen den Eindruck einer demokratischen Legitimität und der Pluralität in der Gesellschaft aufrechterhalten. Ein Parlament ohne Opposition wird nun in Serbien nicht als Feigenblatt dienen können, um die demokratische Herrschaft des Präsidenten zu legitimieren. Dies könnte den außerparlamentarischen Widerstand gegen das Regime verstärken und Menschen leichter für die Proteste mobilisieren.

Eine andere Frage und mögliche langfristige Folge der Wahl, ist der bereits vor der Wahl sich abzeichnende Bedeutungsverlust der EU in Serbien. Vučić hat bereits am Beginn der Corona-Krise eine deutliche geopolitische Wende vollzogen und mit seiner Hinwendung zu China die EU und ihre Rolle in Frage gestellt. Beim Besuch des russischen Außenministers Lawrow wenige Tage vor der Wahl in Serbien meinte Vučić unmissverständlich, dass das Angebot der EU-Mitgliedschaft wahrscheinlich nicht ausreichen würde, um zu einem Ergebnis im Dialog zwischen dem Kosovo und Serbien zu kommen. Die EU scheint damit ein weiterer Verlierer der Wahl zu sein. Man feierte Serbien lange Zeit unkritisch als Vorreiter für die EU-Erweiterung auf dem Westbalkan. Man setzte lange Zeit darauf, dass Aleksander Vučić als der starke Mann in Belgrad eine Lösung der Kosovo-Frage liefern wird können und auch sonst in der Lage sein wird, die gesamte Region langfristig zu stabilisieren. Dafür nahm man in Brüssel, Wien und anderen EU-Hauptstädten, den schleichenden Abbau der Demokratie in Kauf. Jetzt steht man einem Regime gegenüber, das die vollständige Kontrolle über den Staat erlangt hat, und einem Parlament, dessen demokratische Legitimität in Frage gestellt ist. Wenn nun die EU nach dieser Wahl zum „business-as-usual“ in der Erweiterungsfrage und den Beziehungen zum Westbalkan übergeht – die ersten Reaktionen des EU-Erweiterungskommissars Verhely aus Ungarn bzw. des Chefs der Europäischen Volkspartei Donald Tusk deuten leider darauf hin, wird die EU damit der Demokratieentwicklung am Balkan einen Bärendient erweisen. Damit würde die EU indirekt nicht nur den Aufstieg des Autoritarismus in Serbien legitimieren, sondern indirekt auch in anderen Staaten in der Region wie Montenegro oder Albanien fördern.

Eine letzte wichtige Frage nach der Wahl in Serbien betrifft die regionale Dimension. Angesichts des jüngsten politischen Erdbebens in Prishtina (Anklage gegen Thaci beim Sondertribunal in Den Haag für die Kriegsverbrechen der UCK während des Kosovo-Krieges) und der abgesagten nächsten Runde des Dialogs zwischen Serbien und dem Kosovo im Weißen Haus in Washington DC ist es klar, dass es in der nächsten Zeit keinen substantiellen Dialog in dieser Frage geben wird können. Die Situation in Prishtina wird unübersichtlich bleiben, wobei die Möglichkeit von Neuwahlen sehr hoch ist. Aleksandar Vučić wird dies die Möglichkeit geben, aus einer bequemen Position heraus die Entwicklungen in Prishtina zu verfolgen und parallel die Situation im Kosovo für innenpolitische Zwecke zu instrumentalisieren. Zusammen mit seinem immer unverblümteren geopolitischen Liebäugeln mit China und der alten geopolitischen Achse mit Russland, sind das keine günstigen Rahmenbedingungen für die regionale Stabilität und die Rolle der EU.

Hier stellen sich aus österreichischer Sicht zwei zentrale Fragen: Einerseits geht es um die Frage, wie man sich in Bezug auf undemokratische und autoritäre Tendenzen in Serbien positionieren möchte und dabei den Spagat zwischen traditionell guten und durchaus pragmatischen Beziehungen zu Serbien (nicht zuletzt auch auf Grund der wirtschaftlichen Bedeutung Serbiens für Österreich) und einer für den Prozess der EU-Erweiterung notwendigen Prinzipientreue punkto europäischer und demokratischer Werte  schaffen will. Andererseits stellt sich die sicherheitspolitische Frage nach den möglichen Auswirkungen einer möglichen Vertiefung der Spannungen zwischen Kosovo und Serbien für den Auslandseinsatz des österreichischen Bundesheeres im Kosovo. Vor diesem Hintergrund wäre auch eine neue außen- und sicherheitspolitische Neubewertung der Situation seitens Österreichs notwendig, mit der der Spagat zwischen den legitimen politischen und wirtschaftlichen Interessen der Republik, dem Beitrag für die Sicherheit und Stabilität der Region und der Notwendigkeit einer nachhaltigen Demokratisierung und Europäisierung des Balkan geschaffen werden soll.

[1] Überblick der Zahlen anhand von Radio Free Europe – Radio Slobodna Evropa, abrufbar unter https://www.slobodnaevropa.org/a/30534027.html und dem regionalen Nachrichtensender N1 Srbija: http://rs.n1info.com/Vesti/a582261/Koronavirus-uSrbiji-Interaktivni-grafikoni-sa-brojem-zarazenih-po-gradovima.html

[2] Nova RS, Medicinari iz Pazara, juce je umro 11, poceli smo da padamo, 28.6.2020,  abrufbar unter https://nova.rs/drustvo/medicinari-u-pazaru-juce-je-umrlo-11-poceli-smo-da-padamo/ (abgerufen am 28.6.2020)

[3] ARD Südosteuropa Studie Wien, https://www.ard-wien.de/2020/06/26/corona-in-serbien-falsche-zahlen/

[4] https://freedomhouse.org/country/serbia

[5] John Keane: The New Despotism, Boston: Harvard University Press 2020

[6] Ivana Nikolicc, Ivan Jeremic, ‘Vox Populi’: How Serbian Tabloids and Twitter Bots Joined Forces, Balkan Insight, 10.4.2020, abrufbar https://balkaninsight.com/2020/04/10/vox-populi-how-serbian-tabloids-and-twitter-bots-joined-forces/ (abgerufen am 20.6.2020)

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